Shit und Schuld

Wenn ein Deutscher hinfällt, steht er nicht sofort auf, sondern schaut sich um, wer schuld ist.
(nach Tucholsky).

Ich fragte mich oft, warum in unserer Gesellschaft Ursache so oft mit Schuld gleichgesetzt wird. Was ist eigentlich Schuld?

Schuld ist persönliche Verantwortung für einen Schaden oder Missstand – den jemand hätte verhindern können. Oder kann man jemandem eine Schuld geben für etwas, was er nicht vermeiden kann?
Gewiss, Gerichte und Denkfaule tun es. Aber deswegen ist es noch lange nicht richtig. Nehmen wir mal ein paar Beispiele:

Wenn bei einem Auto die Bremsen versagen, und es kommt zu einem Unfall, wird natürlich die Versicherung zahlen und es kommt vielleicht zu einem Gerichtsverfahren. Aber wenn der Besitzer die Wartungstermine wahrgenommen hat und bei Unregelmäßigkeiten in den Fahreigenschaften zusätzlich eine Werkstatt aufgesucht hat, was kann man da noch verlangen? Soll er vor jeder Fahrt unters Auto kriechen, um als Laie nach Schäden zu suchen? In dem Fall ist er nur Unfallverursacher, aber ohne Schuld. Etwas anderes ist es natürlich, wenn er den technischen Zustand seines Fahrzeugs vernachlässigt.

Ausführliche Argumentation im Buch "Da gehen doch nur Bekloppte hin" von Andrea Jolander,
Kapitel "Immer sind die Eltern schuld!"

Oder Eltern. Es gibt keine Eltern, die ihr Kind in die Welt setzen, um es zu vernachlässigen oder gar zu miss­handeln. Trotzdem geschieht es, weil viele Eltern überfordert, verunsichert oder einfach unreif sind. Und sie verursachen damit bei den Kindern bleibende Schäden, physisch und/oder psychisch. Sie versuchen ihr Bestes, aber ihr Bestes ist einfach nicht ausreichend. Statt bequemer Schuldvorwürfe brauchen sie und ihre Kinder einfach Hilfe.

Robert Townsend, der Topmanager, der AVIS vom Kleinunternehmen zur Weltfirma gemacht hat, schrieb mal, dass nur ein Drittel seiner Entscheidungen richtig waren. Trotzdem war er erfolgreich, weil er das Restrisiko in Kauf nahm.

Wenn Unternehmer oder Mit­ar­bei­ter wichtige Entscheidungen treffen, z.B. über Entwicklung von Produkten oder Absatz­märk­ten, müssen sie sich natürlich bestmöglich informieren und Risiken abschätzen. Aber alles können sie nicht wissen oder in Erfahrung bringen, also ist es immer möglich, dass sich eine Entscheidung später als falsch herausstellt, ggf. mit verheerenden Folgen. (Etwas anderes ist es natürlich, wenn z.B. Börsenzocker bei den Banken vor Gier den Verstand ausschalten.)

Niemand ist allmächtig, allwissend und unendlich belastbar. Wenn jemand im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Möglichstes tut, um Fehler und Schäden zu vermeiden, und es geschieht trotzdem was, dann kann man nur noch sage "Shit happens". Allenfalls kann man noch wenigstens für die Zukunft daraus lernen.

Ursachenbetrachtung

Doch woher kommt diese unselige Schuld-Ideologie, die in unserer Gesellschaft so weit verbreitet ist?

Um das zu verstehen, müssen wir uns mit (Evolutions-)Psychologie beschäftigen.

Lebewesen streben nach Sicherheit. Und denkende Lebewesen (also der Mensch) versuchen dazu, die Welt als Ursache-Wirkung-Mechanismus zu verstehen, um ihre Sicherheit zu maximieren. Doch manche Ursachen sind mangels Wissen nicht erkennbar. Ganz zu schweigen von reinen Zufällen.

Beim Versuch Unerklärliches zu erklären, sind die Menschen sehr kreativ. Das führte zur Erfindung z.B. launischer Götter – und eige-

Das Ertragen solcher Hilflosigkeit wird erst durch "reife" Religionen wie z.B. Buddhismus oder Pantheismus leichter.

ner Schuld. Denn es ist leichter zu ertra­gen, sich ein Unglück "verdient" zu haben, als hilflos irgendwelchen Zu­fäl­len ausgeliefert zu sein. Man findet diese Mechanismen noch heute z.B. bei Kindern in zerrütteten Familien, die sich die Schuld für den Streit ihrer Eltern geben und meinen, sie müssten nur noch braver sein, um die Familie zu retten.

Mit der Zeit wurden diese Mechanismen in Weltlehren wie den Reli­gio­nen festgeschrieben (Erbsünde & Co.), und geistige (Ver-)Führer sowie schwache Menschen gewöhnten sich daran, dass Menschen mit Schuldgefühlen bequem zu manipulieren sind.
So wurde die Schuld-Ideologie zur Tradition, die kaum hinterfragt wird.

Wirkungen

Doch was ist die Folge?

Schuldgefühle sind unangenehm, jeder versucht sie zu vermeiden (von Masochisten und manchen psychisch Kranken mal abgesehen). Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Abstumpfen und Abwehren.

Abstumpfung ist das Mittel der Wahl, wenn man eine Schuldzuweisung bekommt, gegen die man sich nicht erfolgreich wehren kann (i.d.R. wegen Machtgefälle) und sie als übertrieben oder gar ungerecht empfindet. Dann kommt es zu der Haltung: "Ich kann mich verantwortungsbewusst verhalten, wie ich will, gelegentlich mache auch ich Fehler und bekomme dann genauso eins übergebraten, wie die anderen. Wozu also die Mühe? Da kann ich doch genauso Schwein sein und mich mehr darauf konzen­trieren, nicht erwischt zu werden." Oder wie der Volksmund sagt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's völlig ungeniert.

Solche Reaktionen erzeugen z.B. autoritäre Eltern/Vorgesetzte, Ordnungs­ämter, Gerichte…

Die andere Alternative ist Abwehren. D.h., eigene Beiträge zu einem Missstand, Unfall, etc. werden verschwiegen, und zur Ablenkung Beiträge anderer gesucht und hinausposaunt. Egal ob es gelingt, einen Sündenbock zu finden (der dann ggf. zur Abstumpfung greift), eine schädliche Folge hat dieses Verhalten auf jeden Fall:

Mechanismen zu erkennen, und dazu gehören auch ganz wertfrei Ursache-Wirkungs-Beziehungen, hilft Abläufe zu verstehen und geeignete Eingriffe zur Hilfe, zur Vorbeugung gegen Wiederholung vorzu­nehmen. Wer ohne objektive Analyse an eine Situation herangeht, kuriert in der Regel nur an Symptomen.

Leider führt die in unserer Gesellschaft so eingebrannte Gleichsetzung von Ursache (wertfrei) mit Schuld (bewertend) zu diesen Abwehrmechanismen, die Analysen, Hilfen und Korrekturen be- bis verhindern. (Dieses Dilemma gibt es in nahezu allen Bereichen des Lebens.)

Besser wäre jedoch, darauf zu verzichten. Dadurch verbessert sich nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch – was dem Einzelnen sicher noch wichtiger ist – das eigene Selbstwertgefühl. Das kann allerdings nicht von oben verordnet werden, denn Zwang wäre kontra­produk­tiv. Es muss von unten wachsen. Die einzelnen Menschen müssen lernen, Fehler zu sehen ohne sich schuldig zu fühlen, so dass sie zu Fehlern stehen können (Shit happens). Das bessert nicht nur ihr eigenes Selbstwertgefühl, sie haben es dann auch nicht nötig, andere anzugreifen, die sich dann leichter ebenfalls dieser Haltung anschließen können.

Zur Anleitung und als Vertiefung empfehle ich das Buch "Sage nein ohne Skrupel" von Manuel D.Smith, das ich auf meiner privaten Homepage besprochen habe